Ein Gastartikel von Annika Grunert

Zwar riecht es aus allen Ecken lecker, aber Alex steuert zuerst auf die Schleckmatte mit Joghurt zu. Seine Zunge fährt ein paar Mal über das Silikon und dann rennt er zu dem Pappkarton, auf und unter dem sich getrocknete Lungenwürfel befinden. Zwei-, dreimal kaut und schluckt er, dann springt er zurück zu der Schleckmatte. Wieder schleckt der Mischlingsrüde nur kurz darüber, eine Drehung nach links und schon folgt er dem nächsten Geruch. Während er über ein Handtuch läuft, sammelt er ein paar weitere Leckerlis ein. Alex schnüffelt sich durch einen Parcours: Es steht Freiarbeit (free work) nach ACE auf dem Plan.

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Inspiriert von Tieren, verschiedenen Methoden, Mitarbeitern im Tierschutz und ihrer Leidenschaft für genaues Beobachten entwickelte die Engländerin Sarah Fisher ACE auf ihrer Tilley Farm in Großbritannien. ACE steht für Animal Centred Education und wie der Name bereits vermuten lässt, dient die Methode dem Wohlbefinden sowie der Erziehung. Im Vordergrund steht dabei die detailgenaue Beobachtung und natürlich das Tier. Hinzu kommen Aufmerksamkeits- sowie Kooperationssignale und ein Ruheritual. Genauso sind die Tellington TTouch Methode – allen voran die Körperarbeit – und die Freiarbeit feste Bestandteile von ACE.

Freiarbeit bildet den Anfang

Wenn die ACE-Instruktorin Anne Bigi-Schuster anfängt, mit einem Tier zu arbeiten, setzt sie zuerst auf die Freiarbeit. „Free work erleichtert einem die Arbeit mit dem Hund, denn er sammelt dadurch auf eine unbeschwerte Art gute Erfahrungen – auch mit dem Trainer.“ Das zahlt sich vor allem bei ihrer Arbeit in dem Tierheim in ihrer italienischen Heimat aus. Nicht selten hat sie es dort mit Hunden zu tun, die Probleme mit dem Kontakt zu Menschen haben. Dann kommt es oft vor, dass sie einen Parcours aufbaut und für ein paar Stunden verschwindet. „Manche Hunde rühren die ersten Male gar nichts an und brauchen ein paar Tage, aber sie verknüpfen mich bereits mit den Gerüchen. Ich bin dann die Frau, die die spannenden Dinge und Leckereien bringt. Das Vertrauen baut sich so nach und nach auf, sodass ich irgendwann dabeibleiben kann. Nach einiger Zeit ist dann ein direktes Training mit dem Hund möglich und wir können beispielsweise an der Leine weiterarbeiten“, erzählt die Hundetrainerin.

Mein Mischlingsrüde und ich üben uns weiter in der Freiarbeit. Den mit Joghurt bestrichenen Eimer lässt Alex links liegen: Er möchte lieber das Hähnchenfleisch. Dafür muss er aber zunächst ein paar Eierpappkartons mit den Zähnen aufreißen, was für manche Hunde anfangs eine zu herausfordernde Station wäre. Irgendwie scheint sein Vorgehen keine Methode zu haben: Zwar gefällt ihm einiges, aber er verweilt meist nur kurz an den verschiedenen Stationen und springt schnell zu der nächsten, auch wenn er noch nicht alle Leckereien eingesammelt hat. Mir erscheint sein Verhalten völlig planlos und auch aus seinen Bewegungen werde ich nicht wirklich schlau. Ein geübtes Auge würde natürlich viel mehr sehen.

Genaues Beobachten erfordert Übung

Durch ihre jahrelange Erfahrung als Hundetrainerin hat Anne Bigi-Schuster so ein geschultes Auge. Während einer ihrer tierischen Kunden die Umgebung entspannt erforscht, beobachtet sie ihn ganz aufmerksam: die Körperspannung, die Mimik, die Körperhaltung, die Bewegungen und das Verhalten behält sie stets im Blick. Wie schwierig fällt es dem Hund, den Kopf zu senken, was macht die Rute, was macht er mit den Ohren und den Augen, kaut er zuerst oder schluckt er die Leckereien direkt herunter, wenn er kaut eher vorne oder hinten? Das sind nur ein paar der Dinge, auf die Anne Bigi-Schuster ihr Augenmerk legt. „Durch das genaue Beobachten bei der Freiarbeit sammele ich so viele Informationen wie möglich, um darauf das weitere Training aufzubauen. Wenn sich der Hund zum Beispiel nur in eine Richtung dreht, wäre die Bodenarbeit vom Tellington TTouch eine gute Möglichkeit, um vorsichtig die Muskeln der anderen Körperseite zu bewegen und zu trainieren. Sucht das Tier eventuell bestimmte Plätze auf, um sich hinzulegen, dann nutze ich den Bereich, um ein Ruheritual einzuführen“, erklärt die ACE-Instruktorin.

Ein Parcours wird normalerweise in ruhigen, möglichst störungsfreien Umgebungen aufgebaut. Der Hund sollte entweder absolut zuverlässig abrufbar sein oder es sollte ein ausbruchssicheres Areal sein, wie beispielsweise ein eingezäunter Garten. Zwar kann free work an einer langen, durchhängenden Leine erfolgen, aber am besten ist es, wenn der Hund komplett frei ist. Also auch das Halsband sollte möglichst abbleiben, damit sich das Tier vollkommen ungehindert und natürlich bewegt. Freiarbeit muss nicht draußen stattfinden, sondern es lässt sich genauso gut drinnen durchführen. Bei der Auswahl der Materialien, Gegenstände und Leckerlis sind grundsätzlich keine Grenzen gesetzt. Allerdings sollten sie immer auf das jeweilige Tier inklusive dessen Gesundheitszustands abgestimmt werden.

Freiarbeit ist für jeden

Im Prinzip kann jeder Zuhause einen Parcours aufbauen, das genaue Beobachten samt Schlüsse daraus ziehen erfordert hingegen Können. „Je öfter man sich darin übt, umso mehr entdeckt man schließlich. Vor allem am Anfang ist es hilfreich, die Freiarbeit per Video aufzuzeichnen. Beim späteren Anschauen stellt man dann oft Dinge fest, die einem während der Freiarbeit gar nicht aufgefallen sind“, weiß Anne Bigi-Schuster aus Erfahrung. Das Sammeln von Informationen ist also das eine, diese für das Wohlbefinden und die Erziehung des Tieres zu nutzen das andere – hier sind dann die ACE-Trainer gefragt.

Die Methode ist für alle Hunde geeignet und sie kommt auch bei anderen Tieren wie Pferden und Katzen zum Einsatz. Vor allem die Freiarbeit bietet sich besonders gut für Tiere mit Verhaltensauffälligkeiten an. Durch das selbstständige Erforschen in Kombination mit verschiedenen Leckereien werden beispielsweise das Selbstvertrauen sowie das Vertrauen von unsicheren Hunden zu Menschen verbessert.

Sich aus freien Stücken der Angst stellen

Alex ist so ein Kandidat. Unbekanntes findet er sehr beängstigend, aber genauso weckt es oft seine Neugier. Die knisternde Verpackungsfolie riecht für ihn einfach zu verlockend. Langsam und zaghaft nähert er sich dem unheimlichen Material. Er verlagert sein Körpergewicht auf die Vorderbeine, reckt die Schnauze ganz weit nach vorne. Bei der ersten leichten Berührung zuckt er zusammen und springt ein Stück zurück, um sich gleich darauf wieder vorsichtig dem Ungeheuer zu nähern. Seine Nase kräuselt sich, sein Blick verrät sein Abwägen. Zack – er hat die Hähnchenbrust erwischt. Es scheint, als würde er denken: „Das war gar nicht so schlimm.“ Und so fällt jeder nächste Happen leichter. Am Ende steht er sogar dicht an der Folie und durchsucht sie gründlich mit der Schnauze.

Schwierige bzw. beängstigende Materialien kommen normalerweise erst später in den Parcours. Manchmal stellt Anne Bigi-Schuster erst während der Freiarbeit fest, dass der Vierbeiner vor irgendetwas Angst hat, dann nimmt sie das Objekt erst einmal wieder heraus. Hat der Hund im Laufe des Trainings mehr Vertrauen gefasst, wird es wieder eingebaut. „Wichtig ist, dass das Tier immer die Wahl hat. Also wenn in dem Parcours beispielsweise etwas ist, dass dem Hund nicht ganz geheuer ist, bekommt er immer die Chance, die gleiche Belohnung leichter zu erhalten. Möchte ein Hund zum Beispiel die auf der Folie liegenden Fleischstücke, er traut sich aber nicht an das knisternde Material, bekommt er die Möglichkeit, die gleichen Leckerlis an einer anderen für ihn einfacheren Stelle aufzusammeln“, erklärt die ACE-Instruktorin.

Raus dem Parcours hinein in schwierige Situationen

Die Hunde konzentrieren sich während der Freiarbeit mehr darauf, was sie riechen, schmecken und fühlen anstatt darauf, was sie hören. Das und insbesondere das Kauen sowie Schlecken wirken sich meist beruhigend aus. Für Anne Bigi-Schuster gibt es noch einen weiteren großen Vorteil: „Aus dem Parcours kann man auch etwas in den Alltag überführen, das den Haltern beziehungsweise dem Hund schwierige Situationen erleichtern kann.“

Einer ihrer tierischen Kunden liebt es zum Beispiel, Leberwurst von einer Silikonmatte abzuschlecken. Die Besitzer haben deshalb eine Silikonmatte in Streifen geschnitten, schmieren diese mit Leberwurst ein, rollen sie zusammen und nehmen sie mit auf Spaziergänge. Sobald eine Situation für den Hund problematisch erscheint, werfen die Besitzer einen Streifen auf den Boden und der Mischling leckt die Leberwurst ab. Zum einen verknüpft er dann die Situation mit etwas Positivem und zum anderen beruhigt ihn das Schlecken. „Manche sagen, das wäre einfach nur Ablenkung, aber das stimmt nicht ganz. Denn der Hund hat die Wahl, ob er sich dem Reiz oder der Leckerei widmen möchte“, sagt Anne Bigi-Schuster. Oft sei es so, dass die Tiere sich dem Unheimlichen immer wieder kurz zuwenden, wenn es ihnen aber zu viel wird, beruhigen sie sich zwischendurch beispielsweise über das Schlecken oder Suchen von Leckerlis. Das stärkt das Vertrauen – in sich, in andere und in die Umwelt.

Foto: © oben: Karoline Thalhofer/Adobe Stock; Bilder im Artikel: Annika Grunert