Seit dem 1. Mai 2020 gibt es bei AGILA telemedizinische Beratungen durch Tierärztinnen und Tierärzte. Alles begann am Telefon, mit dem sogenannten Notdienst-Telefon. Bei diesem Service erhielten Hunde- und Katzenhalter Unterstützung im Notfall. Einer der Tierärzte, die in der Testphase für dieses Angebot mit AGILA zusammenarbeiteten, ist Dr. Thomas Süß. Wir sprachen mit ihm über seinen Beruf, den tierärztlichen Notdienst und die Chancen der Telemedizin.


Übrigens: Mittlerweile haben tierärztliche Videosprechstunde das Notdienst-Telefon ersetzt. Alle weiteren Infos dazu finden Sie hier:

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Herr Dr. Süß, seit wann arbeiten Sie als selbstständiger Tierarzt?

Ich habe mein Studium der Veterinärmedizin 1989 abgeschlossen und danach drei Jahre als Assistenzarzt in verschiedenen Kleintierkliniken Erfahrung gesammelt, um dann 1993 meine eigene Praxis und später Tierklinik für Kleintiere in Ludwigshafen zu eröffnen.

Wie ist bei Ihnen in der Praxis der tierärztliche Notdienst geregelt?

Grundsätzlich sieht das Kammerrecht vor, dass jede Praxis zumindest telefonisch eine Vertretung benennen muss und zwar jederzeit. Bei den allermeisten Kolleginnen und Kollegen meiner Generation ist es eine Selbstverständlichkeit, gemeinsam mit den Praxen der näheren Umgebung einen Notdienstkreis zu gründen. Wir möchten für unsere Patienten auch außerhalb der Praxiszeiten in Notfällen zur Verfügung stehen. Dafür richtete ich mit einigen Kollegen für unseren Kreis in Eigeninitiative damals eine spezielle Telefonnummer ein. Aus unserem Kreis ist seither eine Praxis nachts und an Wochenenden immer erreichbar. Diesem Gemeinsinn stehen heute betriebswirtschaftliche und rechtliche Hürden sowie bei vielen Kolleginnen und Kollegen der Wunsch nach einer gesunden Work-Life-Balance im Weg.

Was bedeutet es für Sie, auch nachts und am Wochenende für die Tierbesitzenden da zu sein?

Grundsätzlich ist es für mich ein Selbstverständnis auch nachts erreichbar zu sein, um erkrankte oder verletzte Tiere zu versorgen. Ein Problem hierbei ist nur, dass viele Anrufe in den Nächten auflaufen, die nicht zu einer Behandlung in der Tierarztpraxis führen und die Arbeitszeit der Tierärzte beanspruchen ohne jede Vergütung. Darüber hinaus erfüllen nur wenige nächtliche Tierarztbesuche die Kriterien eines Notfalls. Daher erachten wir die Idee von AGILA und PetCoMundo, ein Notdienst-Telefon einzurichten, als eine hilfreiche Maßnahme. Sie entlastet Tierärzte in Bezug auf die Anrufe, indem zwischen unmittelbar notwendigen und bis zur nächsten regulären Sprechstunde aufschiebbaren Behandlungen selektiert wird.

Was war Ihr skurrilstes Erlebnis im Notdienst?

Ein Kaiserschnitt bei einer lebendgebärenden Schlange. Dabei habe ich eigentlich auf Anweisung des Besitzers gehandelt, da ich selbst absolut keine Ahnung von Schlangen habe.     

Und Ihr schönstes?

Schöne Erlebnisse sind alle diejenigen, die eine lebensbedrohliche Situation entschärfen können.

Es gibt in Deutschland immer weniger Kliniken und weniger Praxen, die einen Rund-um-die-Uhr-Notdienst anbieten – welche Gründe sehen Sie dafür?

Ein großes Problem ist, dass selbstständige Tierärzte die ganze Nacht ihre Arbeitszeit zur Verfügung stellen, aber dafür nicht oder nicht ausreichend entlohnt werden. In einem nicht unerheblichen Teil der Nächte erhalten wir Anrufe, die nicht vergütet werden und die Zeit kosten, die bei der tierärztlichen Versorgung in der Praxis fehlt. Bei Tieren, die nachts und am Wochenende in die Praxis kommen, sind oftmals nur kleinere Versorgungen nötig. Die dafür berechneten Beträge decken nicht annähernd die Kosten, um rund um die Uhr Personal und Ausstattung bereitzustellen. Daher sind Tierärzte mittlerweile verpflichtet, eine Notdienstpauschale zu erheben – quasi wie ein Rezept, das nachts in der Apotheke eingelöst ebenso einen Nachtzuschlag erfordert. Eine Notdienstbereitschaft hat manchmal auch ein wenig mit Selbstausbeutung zu tun. Als selbständiger Tierarzt kann ich das tun, aber angestellte Tierärzte dürfen aus arbeitsrechtlicher Sicht keine unentlohnten Bereitschaftsdienste übernehmen und sind generell eher seltener bereit, Notdienste zu übernehmen.

Ein weiterer Grund dafür, dass weniger Tierärzte einen Notdienst anbieten, sind frustrierende Diskrepanzen zwischen den Erwartungen einiger Tierhalter und dem, was Tierärzte im Notdienst leisten können. Immer öfter verlangen Tierbesitzer auch nachts das volle Programm an Diagnostik und Chirurgie. Selbst für Spitzenkliniken ist das selten leistbar, da die Spezialisten tagsüber ihre Leistung abrufen und daher nachts nicht zu Verfügung stehen können.

Was bedeutet das für die Tierhaltenden und vor allem: für ihre Tiere?

Für die Tiere bedeutet dies vielerorts eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung. Man kann das nicht verallgemeinern, da es immer auf die regionale Struktur ankommt, aber unter dem Strich kann man sagen, dass sich die tierärztliche Versorgung ohne klare Regelungen oder neue Notdienst-Lösungen verschlechtern wird.

Welche Chancen bietet Telemedizin den Tierhaltenden?

Wie so oft steht man auch bei kranken Tieren vor der Frage: Was mache ich jetzt? Ist es etwas Schlimmes, oder kann ich noch zuwarten, bis mein Tierarzt wieder Sprechstunde hat? Hier kann der tierärztliche Rat beruhigend sein und entlastet die Tierärzte in der Praxis, die die Zeit für solche Tipps nicht haben. Insbesondere kann man dann vielleicht auch einfach mal abwarten, da man die Gewissheit hat, auch zwei Stunden später wieder mit dem Arzt sprechen zu können.

Welche Risiken sehen Sie für Tierhaltende und Tiere?

Derzeit wenige bis gar keine. Das Notdienst-Telefon kann in der Nacht den nächstgelegenen Tierarzt nennen. Ist ein Tierarzt erreichbar, kann eine tierärztliche Abwägung erfolgen. Wenn Symptome, die zunächst dafür sprechen, später oder am nächsten Tag zum Tierarzt gehen zu können, sich verschlechtern, kann die Tierarztpraxis sofort aufgesucht werden.

Das Risiko ist daher aus meiner tierärztlichen Sicht sehr gering. Es besteht zwar theoretisch die Möglichkeit, dass dem beratenden Arzt am Telefon Symptome falsch oder missverständlich geschildert werden und wir etwas „übersehen“ könnten, was wir vielleicht bei einer persönlichen Behandlung in der Tierarztpraxis bemerkt hätten. Aber jeder Tierarzt wird in Zweifelsfällen sowieso zum Aufsuchen des tierärztlichen Notdienstes raten. Ich glaube nicht, dass dies ein reales Problem sein wird.

Wie sehen Sie die Zukunft des Notdienstes unter Anbetracht neuer Technologien wie der Telemedizin?

Nun, gerade während der Corona-Krise zeigt sich, wie sinnvoll Telemedizin sein kann. Derzeit meiden manche Tierhalter den Weg in die Tierarztpraxis wie auch in der Humanmedizin Praxisbesuche derzeit vermieden werden. Bei vielen Gelegenheiten könnte die Telemedizin hier schon eine Erstversorgung auf Distanz sicherstellen. Dies gilt natürlich auch für den telefonischen Notdienst, wo der Arzt schneller mit Rat zur Seite stehen kann, als wenn man erst eine Anfahrt vor sich hätte. Ich glaube, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der tierärztlichen Versorgung ­– auch im Notdienst – durchaus telemedizinisch durchgeführt werden kann.

Das Interview führte Tierärztin Melanie Müller.

Die genannten Informationen stellen keine Anleitung zur Selbstdiagnose und Behandlung von Tierkrankheiten dar. Tierhaltende sollten bei gesundheitlichen Problemen ihres Tieres in jedem Fall eine Tierärztin oder einen Tierarzt um Rat fragen. Diagnosen über das Internet sind nicht möglich.

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