Neuer Hund zeigt plötzlich Stresssymptome

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lisa8322 schrieb am 18.01.2016
Hallo,
vor 1,5 Wochen habe ich eine Hündin aus dem Tierheim bei mir aufgenommen. Bevor sie nach Deutschland ins Tierheim kam, lebte sie in Bulgarien auf der Straße, bzw später dort im Tierheim, von wo sie über den Tierschutz nach Deutschland kam.
Als wir sie kennen lernten, zeigte sie sich mit Menschen und anderen Hunden absolut verträglich, was uns bei ihrer Vergangenheit sehr überraschte. Was genau sie erlebt hat, wissen wir allerdings nicht. Auch das Tierheim beschrieb die Hündin als ruhig, mit der Einschätzung, dass sie sich nach einer gewissen Eingewöhnung als toller Familienhund entwickeln könnte. Wir waren darauf gefasst, dass sie kleine ganz viel Geduld und Ruhe unsererseits braucht, um sich an alles zu gewöhnen - sie hatte bisher ja nicht mal ein Haus von innen gesehen. Aber dann die Überraschung: Die ersten 6 Tage lang zeigte die Hündin sich sehr neugierig und nach wie vor mit allem verträglich. Autos, Hunde, Menschen, unbekannte Geräusche - im ersten Moment zwar vorsichtig, aber sie hat es souverän gemeistert und zeigte keine Anzeichen von Stress. Ganz plötzlich von einen Tag auf den anderen war sie wie ausgewechselt. Sie zog auf einmal wie wild an der Leine, sprang im hohen Bogen in Richtung fahrender Autos und bellte den ein oder anderen Hund an. Sie war vollkommen überdreht und draußen kaum noch ansprechbar und sie zeigte eine ganze Palette an Stresssymptomen: Hecheln, übermäßiges Putzen, Trinken, Strecken und Gähnen, und ganz wichtig: sie hat offenbar den Eindruck, sie müsse alle Angelegenheiten für uns regeln: Sie achtet in der Wohnung auf jedes Geräusch und hat immer die Öhrchen nach vorne gerichtet. Ich hatte ihr erlaubt, sowohl aufs Sofa, als auch ins Bett zu dürfen, damit kam sie dann aber auch nicht mehr zurecht. Das Sofa wurde als erhöhte Wachposition genutzt und im Bett kam sie nicht zur Ruhe. Ich habe wahrscheinlich anfangs den Fehler gemacht, sie als zu entspannt einzuschätzen, nachdem die ersten Tage alles reibungslos klappte und habe ihr zu viel zugemutet. Hundekontakte habe ich ihr jederzeit zugestanden, wir waren für den Anfang wahrscheinlich auch viel zu lange spazieren und haben zu viel erlebt. Das konnte sie bestimmt nicht verarbeiten und jetzt ist ein Stresslevel erreicht, mit dem sie nicht mehr umgehen kann. Ich habe die Spaziergänge mittlerweile auf ein Minimum reduziert, immer die gleiche Strecke zur gleichen Zeit und ansonsten beschränken wir uns auf schlafen und fressen. Außerdem habe ich ihr eine offene Box besorgt, die ich ihr "schöngefüttert" habe und in der sie sich nun die meiste Zeit aufhält (wenn auch nicht immer ganz freiwillig). In der Box scheint sie allerdings viel ruhiger zu sein. Sie ist nicht mehr so wachsam, putzt sich weniger und hechelt auch nicht. Sobald sie aus der Box raus kommt, fängt sie wieder an zu hecheln und weiß nicht so recht wohin mit sich. Ich habe die Maus als totales Muschelmonster kennen gelernt und auch jetzt fordert sich mich oft dazu auf, sie zu kraulen. Aber sie fängt sofort wieder stärker an zu atmen und wirkt insgesamt ruhelos - also bringe ich sie zurück in die Box.
Was für Maßnahmen ich außerdem versuche, um ihr mehr Sicherheit zu geben: Bei Geräuschen im Treppenhaus oder von draußen stehe ich auf, höre oder schaue mir das Geräusch an, empfinde es als unbedrohlich und mache mit dem weiter, womit ich zuvor aufgehört hatte. Ich hoffe, dass ihr das zeigt, dass ich in der Lage bin, unsere Angelegenheiten ohne ihre Hilfe zu regeln. Das allein wird aber kaum reichen, um ein souveräner "Rudelführer" zu sein. Und vor allem wenn wir draußen sind, finde ich keinen Zugang zu ihr. Wenn ich von weitem schon ein Auto bemerke, kann ich sie noch ansprechen und sie füttern, dann fällt ihre Reaktion nicht ganz so extrem aus. In den meisten Fällen bleibt mir aber nicht die Zeit, da ist sie schon auf 180 bevor ich eingreifen kann. Ich habe schon versucht, mich vor sie zu stellen mit dem Körper selbstsicher Richtung "Gefahrenobjekt", aber sie springt so sehr an der Leine und hängt sich so kraftvoll ins Geschirr, dass ich es meist nicht schaffe, auf ihre Höhe zu kommen (und wenn doch, drängt sie sich an mir vorbei. Ich habe schon eine Hundetrainerin kontaktiert, aber die hat zurzeit 2 Wochen Urlaub und bis dahin muss ich schauen, wie ich zurecht komme. Ich hätte so gerne ein paar praktische Tipps, wie ich meiner Hündin vermitteln kann, dass ich unser kleines Rudel beschütze und nicht sie. Ich hab schon viel dazu gelesen, aber in der Regel gehen die Tipps nicht über "Erstmal muss man etwas an der persönlichen Einstellung ändern. Wenn man selber daran glaubt, die Führung übernehmen zu können, dann kann man das auch" hinaus. Natürlich ist das vollkommen richtig, aber das hilft mir in der aktuellen Situation nicht weit, zumal das ja eher eine Lebensaufgabe ist und kein praktischer Ratschlag.
Die Sache mit der Box sehe ich auch etwas kritisch. Ich merke zwar, dass es ihr offenbar hilft, weil sie nicht in die Lage kommt, eigene Entscheidungen treffen zu müssen, aber gleichzeitig ist sie dadurch doch auch von mir isoliert und ich frage mich, wie dadurch ein Wir-Gefühl entstehen kann. Ich weiß aber auch, dass ein hin und her für den Hund nicht zu verstehen ist. Ich bin hin und her gerissen und würde der armen Maus gerne ihren Stress nehmen, aber außer in ihrer Box zu liegen, scheint sie alles aufzuregen.

Liebe Grüße
Lisa
5 Antworten
Ellen Mayer | Hundetrainer/in
schrieb am 18.01.2016
Hallo Lisa,
Sie haben das schon richtig erkannt: Die Hündin meint, alles regeln zu müssen, weil sie niemanden hat, den sie als "Rudelführer" sehen kann, der sie führt. Geduld und Ruhe ist sehr wichtig, aber genauso wichtig ist konsequente, souveräne Führung.
Wenn sie draußen plötzlich an der Leine zieht, ist sie vorher wahrscheinlich auch schon vor gegangen und hat das Rudel angeführt.
Meistens liegt das Ziehen an der Art, wie die Leine gehalten wird. Oft wird die Leine zu kurz gehalten, mit Zug. Zug erzeugt Gegenzug, der Mensch zieht weil der Hund zieht und der Hund zieht immer mehr dagegen. Der Hund kann diesen Kreislauf nicht lösen, das kann nur der Mensch.
Hunde ziehen an der Leine, weil sie es so gelernt haben. Oder, besser gesagt, nicht anders gelernt haben. Wenn Herrchen/Frauchen dem Hund mit ausgestrecktem Arm überallhin folgt, wird der Hund natürlich auch weiter immer dahin gehen, wo er hin will. Er kann es ja, manchmal mit einem Gewicht am anderen Ende der Leine, aber es geht. Hunde lernen durch Erfolg oder auch Mißerfolg.
Deswegen hier mein Tipp: NIE dem Hund folgen, wenn er zieht, auch nicht, wenn er wo schnuppern, sich lösen oder zu Bekannten will. Wenn er einmal Erfolg hatte, müssen Sie wieder von vorne mit dem Training anfangen. Bleiben Sie stehen, bis die Leine wieder locker ist (das braucht etwas Geduld) oder, wenn Ihr Hund richtig feste zieht, drehen Sie um und gehen zurück.
Am besten reagieren Sie schon, wenn er versucht, Sie zu überholen. SOFORT umdrehen und zurückgehen.
Es ist grundsätzlich nichts dagegen zu sagen, dass der Hund ins Bett oder aufs Sofa darf. Es sollte allerding IHR Sofa und IHR Bett bleiben. Das zeigen Sie dem Hund, indem Sie ihn, wenn er von sich aus draufgeht, einfach mal kommentarlos runterschieben. Er darf drauf, wenn Sie es erlauben.
Lassen Sie sich nicht zum Kraulen oder sonstwas auffordern. SIE bestimmen, nicht der Hund. Wenn SIE die Hündin kraulen oder streicheln wollen, rufen Sie sie zu sich.
Wenn man einen Hund versucht, mit Leckerchen abzulenken oder zu locken, macht man sich zum Futterautomaten und wird unglaubwürdig für den Hund. Wenn Sie an anderen Hunden vorbeigehen, versuchen Sie Ruhe auszustrahlen d. h. nicht reden, nicht schimpfen und nicht die Leine krampfhaft kürzer halten. Das alles veranlasst Ihren Hund nämlich, sich noch mehr aufzuregen.
Üben Sie aber vor allem die Leinenführigkeit. Lassen Sie sich NIE von Ihrem Hund wohin ziehen. Wenn er zieht, bleiben sie stehen, bis die Leine wieder locker ist, oder Sie drehen um und gehen in eine andere Richtung.
Die Box ist ok. Allerdings würde ich die Hündin aber auch an einem anderen Platz ablegen. Üben Sie zuerst mit dem Hund, auf Kommando an einen festen Platz zu gehen und dort zu bleiben, bis Sie das Kommando wieder auflösen. Bleiben Sie dabei am Anfang neben dem Korb oder der Decke stehen. Wenn Ihr Hund den Platz verlassen will, bringen Sie ihn kommentarlos wieder hin. Wenn er dort bleibt, geben Sie ihm ein Leckerchen. Dann entfernen Sie sich immer weiter von dem Platz, gehen zurück und geben ein Leckerchen.
Wenn die Hündin sich dann bei jeder Gelegenheit dorthinschicken lässt, zeigt das, dass Sie alles im Griff haben.
Wichtig ist immer, dass SIE agieren und der Hund reagiert. Ist es umgekehrt, wird der Hund unsicher weil er das Gefühl hat, führen zu müssen und das gibt meistens Probleme.

Viel Erfolg..
Ellen Mayer
www.lesloups.de
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lisa8322 | Fragesteller/in
schrieb am 21.01.2016
Hallo Frau Mayer,

lieben Dank für Ihre Antwort. Im Großen und Ganzen kann ich Ihre Worte nachvollziehen und wir haben schon kleine Fortschritte gemacht. Der Stresslevel in der Wohnung ist ein wenig gesunken, sie kommt ganz langsam bei uns an. Bei einer Sache bin ich allerdings etwas unsicher: Ich möchte eigentlich gar nicht, dass sie hinter mir läuft, weil ich sie so nicht im Blick habe. Und die Sache "der Rudelführer geht vor" sehe ich etwas kritisch, weil in frei lebenden Wolfsrudeln beobachtet wird, dass der Rudelführer in der Mitte läuft. Das fällt für mich in dieselbe Kategorie wie "Immer vor dem Hund durch die Tür" und "Den Hund immer erst füttern, wenn man selbst schon gegessen hat". Ich bezweifle, dass das dazu führt, dass der Hund mich als "Rudelführer" akzeptiert. Bei vielen anderen Dingen achte ich aber verstärkt darauf, dass ich entscheide, ob z.B. gekuschelt wird oder nicht. Und was die Tür angeht, schaue ich auch, dass sie sich hinsetzt, bevor ich die Tür öffne. Wenn sie z.B. hoch springt, geht die Tür nicht auf.
Es ist im Zusammenhang mit der Leinenführigkeit nun ein neues Problem aufgetaucht, seit ich jedes Mal stehen bleibe, wenn sie zieht: Sie kommt zurück gelaufen, umkreist mich und läuft wieder nach vorne los. Ich weiß nicht, ob das Hüteverhalten ist, oder einfach ein Kontrollversuch, es ist aber ja absolut nicht zielführend, wenn ich mich dann in Bewegung setze. Aber irgendwie müssen wir schließlich von der Stelle kommen :-(
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Ellen Mayer | Hundetrainer/in
schrieb am 21.01.2016
Hallo Lisa,
Sie haben schon recht, es geht auch in erster Linie nicht darum, dass der "Rudelführer" vorgeht, sondern mehr darum, dass der "Rudelführer" führt. Sie schreiben weiter oben, dass Sie es in den Momenten nicht schaffen, auf Höhe des Hundes zu kommen. Das sollte Sie auch nicht versuchen, der Hund muss auf IHRE Höhe kommen.
Es ist nunmal so, dass, wenn der Hund vorgeht, er auch führt. Besser als Stehen bleiben ist deswegen, kommentarlos in eine andere Richtung gehen. Man kommt am Anfang dann nicht wirklich vorwärts.
Deshalb sollte man immer nur zwischendurch die Leinenführigkeit üben. Ich habe das immer so gemacht, dass der Hund eine Zeitlang an der Schleppleine tun durfte, was er wollte (außer ziehen), dann wieder ein paar Minuten Leinenübung. Günstig ist dann, wenn man mit dem Auto zu dem Platz fährt, wo man übt. Ungünstiger ist es, wenn man zu Fuß dorthin geht.
Wenn der Hund Sie nicht führt, oder besser gesagt, Sie dem Hund nicht folgen, kann er gehen, wo er will.
Allerdings, Sie schreiben, Sie wollen den Hund im Blick haben. Hmm, bei Hunden ist das nunmal so, dass, wenn Frauchen den Hund immer im Blick hat und beobachtet, der Hund keinen Grund sieht, seinem Menschen Aufmerksamkeit zu schenken. Nehmen Sie sich doch an der Hündin ein Beispiel und gehen Sie hin, wo Sie wollen.

Liebe Grüße
Ellen Mayer
www.lesloups.de

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lisa8322 | Fragesteller/in
schrieb am 22.01.2016
Danke Frau Mayer für Ihre tolle Unterstützung!
Ihre Worte haben mich ein wenig wach gerüttelt. Ich habe vor lauter Bäumen den Wald aus den Augen verloren. Ich werde daran arbeiten, mich nicht auf Diskussionen mit meiner Hündin einzulassen, sondern meine Entscheidung auch ernst meinen, sodass auch sie mich ernst nehmen kann. Der Tipp, nur zwischendurch die Leinenführigkeit zu üben, ist super. Das werde ich auf jeden Fall übernehmen :-)
Ich verstehe, was Sie meinen, wenn sie sagen, der Hund hat keinen Grund, mir Aufmerksamkeit zu schenken, wenn ich ihn eh immer im Blick habe. Bevor ich die Kröte zu mir geholt habe, habe ich natürlich viel zum Thema Hunde gelesen, auch zu dem Thema, wie ich mich für den Hund spannend machen kann z.B. auf Spaziergängen. Nun ist es aber ja so, dass sie mit den ganzen Reizen so überfordert ist, dass sie sich nicht konzentrieren kann. Muss ich einfach Geduld haben, bis sie sich an alles gewöhnt hat und verstanden hat, dass sie nun ein Zuhause auf Lebenszeit hat? Leider habe ich nicht immer ein Auto zur Verfügung und kann nur unregelmäßig an reizarme Orte fahren, dort ist sie natürlich viel aufnahmefähiger.
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Ellen Mayer | Hundetrainer/in
schrieb am 22.01.2016
Wenn Sie mit dem Auto zum Gassigehen fahren, ist natürlich von Vorteil, dass Sie sich reizarme Gegenden aussuchen können. Der größte Vorteil liegt aber darin, dass Sie sofort mit dem Üben beginnen können. Sonst müssen Sie schon von Anfang an immer hin und her laufen, weil der Hund ja an der Leine ist und wahrscheinlich zieht.
Der Hund lebt ja noch keine zwei Wochen bei Ihnen und es ist natürlich alles neu. Geduld ist dann sehr gefragt.
Hundeerziehung ist eigentlich ganz einfach: Der Mensch agiert, der Hund reagiert. Wenn das Zusammenleben funktioniert, kann man diese Regel lockern und den Hund auch mal entscheiden lassen.
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